Neuroästhetik im Handel: Das Produkt ist tot, es lebe das Gefühl!
Stefan SuchanekGeschätzte Lesedauer: 2 MinutenDie Evolution im Handel: Emotionale Erlebnisse und neurovegetative Prozesse gelten mittlerweile als höchste Stufe der ökonomischen Leistung. Wirtschaftspsychologe Stefan Suchanek erklärt im Gastbeitrag, was hinter Neuroästhetik steckt und welche Vorteile sie für den Handel bietet.
Studien zeigen immer wieder auf: Menschen würden gerne wieder mehr im stationären Handel – statt online – einkaufen. Hört sich gut an, doch was hindert sie daran? Oft fehlen unserem Organismus die notwendigen Belohnungsreize, um ein Gefühl in die Handlung umzusetzen. Nun kommt die Neuroästhetik ins Spiel: Welche Impulse aktivieren wirksam das Kundengehirn?
Retten neurovegetative Prozesse den Handel?
Jedes Produkt ist mittlerweile supereasy per Mausklick für jedermann verfügbar: Zum günstigsten Preis rund um die Uhr. Und man ärgert sich nicht über grimmige Verkäufer:innen oder ungepflegtes Ladendesign. Schlecht für den stationären Handel. Aber: Holt die Menschlichkeit den Menschen zurück?
In unserer heutigen Zeit gewinnen das Erscheinungsbild, der erste Eindruck, das Storytelling und visuelle Reize zunehmend an Bedeutung. Gleichzeitig führt die Überlastung mit Informationen zu einem Overload in unserem Gehirn, der Stress und Vermeidungsverhalten auslösen kann. Aus diesem Grund rückt die Forschung zu den Auswirkungen von Gestaltung und Kommunikation auf das menschliche Gehirn und das daraus resultierende Bevorzugungsverhalten immer stärker in den Fokus.
Neuroästhetik: Was steckt dahinter?
Der Begriff „Neuroästhetik“ wurde vor etwa zwanzig Jahren vom Neurobiologen Semir Zeki geprägt. Er beschäftigt sich mit der Wechselwirkung zwischen der visuellen Wahrnehmung und neurobiologischen Prozessen im Kontext von Kunst und Ästhetik. Seit Mitte der 90er Jahre wurde beobachtet, dass unser Gehirn und das Nervensystem auf externe und visuelle Reize und den damit verbundenen Verarbeitungsprozessen entscheidungs- und handlungsbeeinflussend reagieren. Diese Erkenntnisse werden mit denevolutionären Vorteilen der Menschen begründet und haben Meilensteine gesetzt: Es wurden mittlerweile eine Vielzahl an Reizen mit der Fähigkeit, die Belohnungsareale im Gehirn von Menschen zu aktivieren und damit ein Wohlgefühl auszulösen, entschlüsselt. Diese Erkenntnisse aus der Neuroästhetik und Kommunikationspsychologie gelten als Schlüssel zur Generierung von Attraktivität, Wirksamkeit und Bevorzugung – und damit auch Umsatz.
Eine besonders atmosphärische Umgebung oder eine charismatische Kommunikation können sogar tief in unsere Hormonproduktion einwirken: Menschen bevorzugen nach dem Prinzip der hedonistischen Erfahrung intuitiv das Vorteilhafte und Förderliche und versuchen diejenigen Situationen zu vermeiden, die unangenehm, unsicher oder stressauslösend wirken. Das Schaffen solcher Prozesse wird mittlerweile als höchste Stufe der ökonomischen Leistung bezeichnet – mit einem erheblichen Mehrwert und noch ungenutzten Chancen.
Beispiel: Der Fluency Effekt
Die Kleinkindforschung zeigt auf: Ein unbekanntes, aber symmetrisches Gesicht mit großen Augen wird bereits von Babys bevorzugt wahrgenommen und eher angelächelt als ein eher asymmetrisches Gesicht. Menschen, die als „schön“ bezeichnet werden, haben meist sehr symmetrische Gesichtszüge sowie kontrastreiche und vital wirkende Körperoberflächen. Wird dieser Prozess noch mit einem mehrsekündigen, freundlichen Augenkontakt ergänzt, wird im menschlichen Organismus das Hormon Phenylethylamin, unser Verliebtheitshormon, angeregt: Wir reagieren bei all den genannten Effekten mit einer stärkeren Anziehungskraft und einem Belohnungsgefühl, da unser Gehirn zur Wahrnehmung und Verarbeitung solcher Muster besonders „flüssig“ vorgehen kann und weniger Energie verbraucht. So zeigen auch Untersuchungen, dass Schirme oder Überdachungen bei Kund:innen die Aufenthaltsdauer erhöhen oder handschmeichelnde Oberflächen oder Berührungspunkte das Bindungshormon Oxytocin stimulieren.
Neue Chancen
Insgesamt bietet die Neuroästhetik spannende Möglichkeiten, Handelsflächen und Verkaufsarchitektur zu verbessern. Dadurch eröffnet sich sogar das Potential, Räume ohne aufwändigen Umbau zu optimieren und den Umsatz erheblich zu steigern. Es gilt also in Zukunft, angenehme kognitive Prozesse einzuplanen, die dem Menschen das Gefühl von Wohlgefühl, Sicherheit, Vertrauen und „innerer Bewegtheit“ geben: Man fühlt sich von innen heraus motivierter, um einzukaufen.
Über den Autor
Stefan Suchanek ist Wirtschaftspsychologe und Retail Designer. Seit 30 Jahren sammelt er die psychologischen Effekte der Wechselwirkung zwischen Mensch, Raum und Atmosphäre.