Servus Zettelchaos: Wie eine Buchhandlung und ein Technologie-Start-up der Thermopapierverschwendung den Kampf ansagen
Carina FreundlGeschätzte Lesedauer: 9 MinutenDer Digitale Kassenbon in der Praxis – Buchhandlung trifft Start-up – Interview
Das Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Handel hat mit Johanna Röhrl, Geschäftsführerin der Buchhandlung Bücherwurm und Simon Rieger, Head of Marketing bei anybill ein Interview zum Thema Digitale Kassenbons durchgeführt.
Der Aufschrei zum Start der Kassenbonpflicht im Januar 2020 war groß. Bilder von Papierhaufen gingen durch die Medien, eine Protestaktion transportierte eine Million Bons nach Berlin und lud sie vor dem Reichstagsgebäude ab. Auch Lea Frank störte sich an den herumfliegenden Kassenbons in ihrem Geldbeutel – und gründete deshalb zusammen mit Tobias Gubo und Patrick Göttler das Tech-Unternehmen anybill. Das Unternehmensziel: Zu jeder Zahlung dort einen digitalen Kassenbon, wo Verbraucher:innen von heute Belege erwarten. Das deckt sich auch mit der neu entstandenen Herausforderung kleiner und mittlerer Unternehmen, die Belegausgabepflicht zufriedenstellend umzusetzen.
Aktuell arbeiten nur 36 Prozent der KMU in Deutschland mit einem Start-up zusammen.1 Derweil schafft die Digitalisierung genau dafür fruchtbaren Boden: Etablierte Unternehmen bauen auf einen großen Erfahrungsschatz, sie haben sich ihre Position auf dem Markt und bei den Kundinnen und Kunden bereits gesichert. Start-ups stehen hierbei noch am Anfang. Gleichzeitig macht der digitale Wandel Innovationen auch bei kleinen und mittelständischen Betrieben unerlässlich – Innovationen, die Jungunternehmen oft anbieten.
Die Regensburger Buchhandlung Bücherwurm hat dieses Potential genutzt und arbeitet seit letztem Jahr mit dem Start-up anybill zusammen. Das Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Handel hat mit beiden Unternehmen über ihre Motivation, die Vorteile und eventuelle Herausforderungen bei der Zusammenarbeit gesprochen.
1 RKW Kompetenzzentrum (2021): Mittelstand meets Startup 2021. Potenziale der Zusammenarbeit.
Seit Jahren ist die Digitalisierung in aller Munde. Gleichzeitig wird Deutschland vorgeworfen, in Sachen Digitalisierung zu langsam zu sein. Warum habt ihr euch entschieden, ein Unternehmen im Digitalisierungsumfeld zu gründen?
Simon Rieger (Head of Marketing bei anybill): Das war keine direkt bewusste Entscheidung, dass explizit ein Tech-Unternehmen gegründet werden muss. Die Gründung von anybill basiert rein auf der Vision von Co-Gründerin Lea Frank, die eine Lösung für ihr Zettelchaos in ihrem Geldbeutel beabsichtigt hatte. Sie dachte sich, dass es doch in einem digitalen Zeitalter auch möglich sein muss, den Kassenbon digital auszustellen. Immerhin machen wir fast alles – bzw. ziemlich viel und Tendenz steigend – mit dem Smartphone.
Die Belegausgabepflicht führt bei zahlreichen Gastronomie- und Handelsbetrieben zu Papierbergen, viele sind auf der Suche nach Lösungen. Mit wie vielen Händler:innen arbeitet ihr schon zusammen? Wie viele bieten schon aktiv digitale Kassenbons in ihrem Laden an? Und wie viele sind in Planung?
Die Zahl der Händler:innen steigt stetig an. Dabei unterstützen uns vor allem unsere starken Kassensoftware-Partner. Die exakte und aktuelle Anzahl an Stores listen wir auf unserer Website auf. So finden Kund:innen alle Läden und Gaststätten, die digitale Kassenbons ausstellen.
Welche weiteren Branchen sind für eine Zusammenarbeit für euch besonders attraktiv?
Jede Branche, die Kassenbons, Bewirtungsbelege, Quittungen oder Belege ausstellt. Wir arbeiten zudem bereits mit großen Handelsunternehmen zusammen, die wir aktuell allerdings leider nur begrenzt kommunizieren dürfen.
Euer Unternehmen sitzt in Regensburg. Gibt es da einen „Heimvorteil“ oder kommen Unternehmen aus ganz Deutschland auf euch zu?
Seit Oktober 2021 haben wir auch einen Unternehmenssitz in München. Bei anybill arbeiten alle entweder in Regensburg, München oder remote. Unser Sales-Team verwendet zudem ausschließlich öffentliche Verkehrsmittel, mittels denen sie unsere Partner in ganz Deutschland besuchen.
Mit der Technologie von anybill sparen die Unternehmen viel Thermopapier ein und leisten damit einen wertvollen Beitrag zum Umweltschutz. War euch dieser Nachhaltigkeitsbezug schon bei der Gründung wichtig? Und ist der Nachhaltigkeitsaspekt ein überzeugender Faktor für Unternehmen?
Ja, definitiv. Umweltschutz ist ein Thema, das uns und natürlich auch zahlreichen Unternehmen am Herzen liegt. Und ja, vermutlich ist das für viele Unternehmer:innen dann auch ein Grund, weshalb sie auf digitale Kassenbons umstellen möchten.
Wie aufgeschlossen sind besonders kleine und mittelständische Unternehmen Eurer Erfahrung nach in Sachen Digitalisierung? Hat Corona die Lage verbessert oder sind nach den Lockdowns alle wieder in alte Verhaltensmuster zurückgekehrt?
Corona hat uns im Zuge digitaler Speisekarten, QR-Code-Logins etc. durchaus ein wenig in die Karten gespielt. Erklärungsbedarf hinsichtlich des Nutzens und der Funktionsweise des Scans von QR- Codes haben wir wenig bis kaum. Unternehmen jeder Größe und Branche begegnen uns unterschiedlich. Viele setzen auf moderne Technologien und auch auf den digitalen Kassenbon. Dass gerade KMU besonders zurückhaltend oder kritisch sind, kann ich daher absolut nicht bestätigen.
Welche Hürden sind euch bei der Zusammenarbeit mit Unternehmen begegnet? In welchen Bereichen kommt es häufig zu Anlaufschwierigkeiten und wie geht ihr damit um?
Wir sind hier vor allem von unseren starken Partnern abhängig, die uns bei der Integration in ihr bestehendes und erweiterbares Kassensystem unterstützen. Händler:innen müssen digitale Kassenbons nur noch anbieten wollen. Wir sind gerüstet.
Wie reagiert ihr, wenn Unternehmer:innen und Kund:innen euch mit Skepsis begegnen?
Wir versuchen mit unseren besten Argumenten zu überzeugen, Argumente zu den Themen Nachhaltigkeit, Kostenersparnis sowie neue digitale Kontaktpunkte zu Kund:innen etc. Im Gespräch lässt sich anfängliche Skepsis dann oft beheben und offene Fragen können geklärt werden.
Welche Vorteile seht Ihr in der Zusammenarbeit von kleinen und mittleren Unternehmen und Start-ups – für Euch und für die Unternehmen?
Gemeinsam schaffen wir mit allen Partnern eine Infrastruktur für digitale Kassenbons. Händler:innen positionieren sich als innovatives Unternehmen, sparen umweltschädliches Thermopapier ein und erreichen Kund:innen mit neuen Kontaktpunkten.
Wir möchten uns gerne ein gemeinsames Projekt von Euch mit einem Unternehmen genauer anschauen: der digitale Kassenbon bei der Regensburger Buchhandlung Bücherwurm. Wie kam die Zusammenarbeit zustande?
Die Geschäftsführung der Buchhandlung Bücherwurm ist seit Beginn der Gründung im Dezember 2019 ein Fan von anybill. Seitdem haben wir die Realisierung ihres Wunsches, digitale Kassenbons bei ihnen an der Kasse auszustellen, verfolgt und schlussendlich auch realisiert.
Über anybill
anybill verfolgt das Ziel, zu jeder Zahlung einen digitalen Kassenbon zu liefern – in Händler-Apps, Banking- und Payment-Apps oder ohne Applikation – dort wo Verbraucher:innen von morgen Belege erwarten. Für eine flächendeckende technische Abdeckung setzt anybill auf Kassenintegrationen und mit den flexiblen und skalierbaren API-Services haben Händler jeder Größe und Branche die Möglichkeit, digitale Belege auszustellen. anybill agiert dabei als technischer Enabler und ermöglicht über SDK-Module digitale Belege als Embedded Service in Dritt-Applikationen, wie Banking- oder Händler-Apps einzusetzen. anybill wurde im Dezember 2019 von Lea Frank, Tobias Gubo und Patrick Göttler gegründet und hat Standorte in Regensburg und München.
Simon Rieger ist Head of Marketing bei anybill. Er sieht in digitalen Kassenbons große Chancen für die digitale Kommunikation, um Kund:innen mit z.B. Content auf dem digitalen Kassenbon oder Kundenbindungsprogrammen zu erreichen.
Wenn ich als Unternehmer:in gerne den digitalen Kassenbon einführen möchte, wie läuft so ein Projekt ab?
Am besten ist es, Sie kontaktieren den Anbieter Ihres Kassensystems mit dem Wunsch, dass Sie digitale Kassenbons mit anybill ausstellen möchten und gleichzeitig kontaktieren Sie uns über das Portal unserer Website. Im Idealfall haben wir bereits eine Kooperation mit Ihrem Kassensoftware-Händler. Wenn nicht, werden wir uns dafür einsetzen.
Warum lohnt sich der digitale Kassenbon nicht nur für große Unternehmen, sondern auch für kleine Betriebe?
Kurz zusammengefasst kann man sagen:
- Der digitale Kassenbon wird ein neuer Berührungspunkt zwischen dem Unternehmen und den Kund:innen von morgen
- Umweltschädlichen Kassenbon-Müll einzusparen, schadet keinem Unternehmen – im Gegenteil
Wie knüpft ihr Kontakte zu kleinen, mittleren und anderen Unternehmen – auch mit Blick auf Corona und Veranstaltungsausfälle?
Kontakte konnten wir vor allem mit Online-Events und über unsere Online-Marketing-Kanäle knüpfen.
Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Welche digitalen Themen werden zukünftig wichtig – für euer Unternehmen, aber auch allgemein? Welche Projekte stehen bei euch an?
Der digitale Kassenbon und somit die Technologie von anybill als Embedded Service (d.h. technische Module von anybill können in Applikationen Dritter genutzt werden) gewinnen in den nächsten Monaten und Jahren definitiv an Bedeutung.
Wir hatten im Oktober 2021 unsere zweite Finanzierungsrunde kommuniziert. Jetzt möchten wir vor allem unser Partner-Netzwerk und Akzeptanzstellen ausbauen und unser Team vergrößern.
Zum Abschluss noch eine Frage zum Arbeitsalltag bei anybill: Euer Geschäftsmodell dreht sich ja um ein digitales Produkt. Gerade im Handel, aber auch in der Gastronomie, Industrie und dem Handwerk wird immer wieder betont, wie wichtig es sei, digitale Elemente in den Arbeitsalltag zu integrieren. Wie sieht das bei euch aus? Wie digital arbeitet anybill?
Das gesamte Team arbeitet zu 100 Prozent digital mit Laptops und externen Bildschirmen. Dabei leben wir Flexibilität am Arbeitsplatz. Wir haben keine Office-Pflicht. Wenige arbeiten bei uns auch gerne remote, die meisten bevorzugen aber aufgrund unserer starken Teamdynamik das Büro.
Durch die Zusammenarbeit mit der Buchhandlung Bücherwurm hat nicht nur das Start-up anybill einen neuen Kunden gewonnen und sein Netzwerk ausgebaut. Neben Online-Beratung, Newsletter und Social Media hat auch die Buchhandlung mit dem digitalen Kassenbon ihren Digitalisierungsgrad weiter erhöht und macht sich somit fit für die Zukunft. Geschäftsführerin Johanna Röhrl gibt Einblicke in ihre Ideen und ihre Strategie.
Insgesamt gibt es die Buchhandlung Bücherwurm bereits seit über 30 Jahren. Der Ur-Bücherwurm wurde von Christian Röhrl im Jahr 1988 gegründet. Seit 2005 gibt es die zweite Filiale in Neutraubling, die 2019 noch durch eine Filiale im KÖWE-Einkaufszentrum in Regensburg und 2021 in Nittendorf ergänzt wurde.
Die Hauptfiliale befindet sich seit November 2019 nach dem Umzug vom Rennplatz nun in der wunderschönen Regensburger Altstadt.
Über Buchhandlung Bücherwurm
Sie nutzen bereits einige digitale Elemente in Ihren Buchhandlungen. Wie ist die Idee entstanden, den digitalen Kassenbon in ihren Buchhandlungen einzuführen?
Johanna Röhrl (Buchhandlung Bücherwurm): Wir fanden einfach die Idee, den Kassenbon nicht mehr ausdrucken zu müssen und ihn stattdessen der Kundschaft über einen QR-Code aufs Handy zu schicken, sehr überzeugend. Es ist ein Service für die Kund:innen, die ihre Bons nun gut geordnet, übersichtlich und verlustsicher aufbewahren können. Für uns ist es außerdem ein weiterer Punkt, wie wir unser Unternehmen nachhaltiger aufstellen können, weniger Ressourcen verbrauchen und vor allem die giftigen Aufdrucke vermeiden und dabei sogar noch etwas Geld einsparen.
Wie sind Sie auf anybill aufmerksam geworden? Wie ist die Zusammenarbeit entstanden?
Das kam über unsere Tochter, die in München lebt und auch eher zufällig über Berichterstattungen darauf aufmerksam wurde. Da anybill sogar ein Regensburger Unternehmen ist, ging es dann sehr schnell mit dem ersten Gespräch, zu dem wir Lea Frank zu uns in die Buchhandlung eingeladen haben.
Welche Erwartungen hatten Sie an das Projekt? Und wurden diese Erwartungen erfüllt?
Die Erwartungen an das Projekt waren und sind, dass möglichst viele Kundinnen und Kunden diese Möglichkeit nutzen. Der Kunde bzw. die Kundin haben bei uns weiterhin die Wahlmöglichkeit, auch ganz klassisch einen Papier-Kassenbon zu erhalten. Aktuell sind es noch nicht viele Kund:innen, die den digitalen Kassenbon nutzen, da das noch weitgehend unbekannt ist. Es erfordert momentan sehr viel Erklärungsaufwand, um unserer Kundschaft das Produkt zu erklären, aber die Resonanz ist fast immer positiv und immer mehr Kund:innen nutzen die Möglichkeit.
Aber bei jedem Kunden kann man den zeitlichen Aufwand natürlich nicht betreiben, gerade wenn viel los ist. Ich bin aber überzeugt, dass sich der digitale Kassenbon so nach und nach durchsetzen wird und wir sind auch ein bisschen stolz darauf, dass wir hier zu den Pionieren gehören.
Welche Voraussetzungen mussten Sie im Laden vor Ort und im Backoffice schaffen?
Unsere Softwarefirma Eurosoft musste anybill in unsere Kassensoftware integrieren, was aber kein großes Problem war. Außerdem mussten wir einen zweiten kleinen Kundenbildschirm anschaffen, auf dem der QR-Code angezeigt werden kann, den die Kund:innen dann abfotografieren oder scannen.
An der Kasse ist es auch für unsere Mitarbeitenden überhaupt nicht schwierig oder kompliziert, den digitalen Bon zu erzeugen. Es ist nur ein Tastendruck. Und die Bonerzeugung ist sowohl für die Kundschaft als auch für uns so absolut rechtskonform.
Wie reagieren Ihre Kund:innen auf die digitalen Kassenbons?
Die Kund:innen, denen wir das erklären, finden das eigentlich fast alle gut. Manche nehmen sich nicht gleich die Zeit, es tatsächlich gleich auszuprobieren, aber die Reaktionen sind durch die Bank positiv. Und gerade jüngere Kund:innen richten sich häufig ganz spontan direkt an der Kasse die anybill-App am Handy ein oder scannen den Code mit der Kamera- App und probieren das aus.
Welche Vorteile sehen Sie in der Zusammenarbeit von kleinen und mittleren Unternehmen und Start-ups? Und welche Herausforderungen?
Ein kleines Unternehmen wie wir kann sehr spontan und unbürokratisch auf neue Geschäftsideen von Start-ups eingehen. Solange keine großen Investitionen dafür notwendig sind, sind kleine und mittlere Unternehmen sicher ideale Partner zum Austesten neuer Ideen, weil gerade auch die Hierarchien flach und die Entscheidungswege kurz sind. Eine Herausforderung ist, wenn solche neuen Möglichkeiten mit hohen Kosten oder mit komplexen Abläufen verbunden wären, für die unter Umständen das Personal fehlt. Das war bei der Idee von anybill aber nicht der Fall.
Haben Sie vorher schon einmal mit einem Start-up zusammengearbeitet? Oder sind weitere Projekte in diese Richtung geplant?
Mit einem Start-up haben wir bisher noch nicht zusammengearbeitet, aber wir hatten schon verschiedene Projekte mit Studierenden im Zusammenhang mit unserer Buchhandlung und haben mit einer Zukunftsforscherin einmal einen mehrtägigen Workshop über die „Buchhandlung der Zukunft“ abgehalten. Kurz gesagt, wir sind da grundsätzlich sehr offen und kreativ, auch bei neuen Formaten. Und wir hatten, vermittelt durch die Techbase hier vor Ort in Regensburg, jetzt auch schon junge Leute hier, die uns um Rat fragen bei der Entwicklung neuer Ideen im Handelsbereich.
Was würden Sie jemandem raten, der ein ähnliches Projekt plant?
Wir finden die Zusammenarbeit mit anybill sehr angenehm und auch inspirierend. Deshalb kann ich das hier nur empfehlen. Und es bringt durchaus auch viel Aufmerksamkeit, wenn man bei der Entwicklung kreativer neuer Modelle als Pionier mit dabei ist.
Bei uns hat sicher auch die Entwicklung solch kreativer, ungewöhnlicher Modelle wie digitaler Kassenbon oder unsere Online-Buchberatung dazu beigetragen, dass wir heuer den deutschen Buchhandlungspreis erhalten haben. Engagement zahlt sich dann doch irgendwo aus!
Die Interviews erschienen zuerst im Magazin WISSENSCHAFT TRIFFT PRAXIS – Ausgabe 17 “Zusammenarbeit von Start-ups und KMU”.